Das Alfred-Escher-Denkmal steht mitten auf dem Zürcher Bahnhofplatz. Tag für Tag haben es Tausende und Abertausende von Menschen in ihrem Blickfeld und viele laufen ständig im Abstand von wenigen Metern daran vorbei. Zeigt man diesen Menschen aber das Foto, von dem dieser Post handelt, wird die überwältigende Mehrheit behaupten: Nein, keine Ahnung, nie gesehn.
So teilt das Denkmal das Schicksal vieler älterer Monumente im öffentlichen Raum. Es ist stets im Blick und wird doch nie gesehen. Die Gründe sind offensichtlich: Die Aufmerksamkeit der Passanten ist darauf gerichtet, sich durch all die anderen Menschen schlängelnd einen Weg zu finden, Ästhetik und Symbolik des Denkmals sind veraltet und nicht mehr verständlich, es repräsentiert auch kein aktuelles Thema und stellt keine Provokation dar. (Letzteres gilt für den Moment, für Escher, für die Schweiz – in den USA haben kürzlich etliche Denkmäler im Zuge der Black-Lifes-Matter-Bewegung einige Aufmerksamkeit erhalten …)
Das Foto «Escher und sein Erbe» ist auf den ersten Blick ein simples Bild. Es steckt jedoch einiges an Denksport dahinter – davon soll hier gehandelt werden.
Alfred Escher war der bedeutendste Wirtschaftsführer und einer der wichtigsten Politiker der Schweiz im 19. Jahrhundert. Er wirkte von Zürich aus – und setzte sich auch sehr dezidiert für die Zürcher Interessen ein. Ich hatte die Gelegenheit, für ein grosses, in Zürich beheimatetes Unternehmen dessen Gründungsurkunde in Form eines edlen Bildbandes neu zu edieren. Da Escher in diese Firmengründung involviert war, benötigte ich auch zu ihm Bildmaterial und wollte neben einem zeitgenössischen Portrait auch eine aktuelle Fotographie seines Denkmals zeigen.
Allerdings ist dieses Denkmal schwierig in Szene zu setzen und die allermeisten Bilder, die man findet, sind ästhetisch unansehnlich und lassen Symbolkraft und Raffinesse vermissen. Um die Probleme, die dieses Foto-Sujet bereitet, anschaulich zu machen, füge ich hier eine den Wikimedia Commons entnommene Standardansicht des Zürcher Bahnhofplatzes an (ein Mausklick vergrössert das Bild in einer Lightbox); man sieht das Escher-Denkmal in der Mitte auf seinem Sockel.
Ansicht des Zürcher Bahnhofplatzes mit dem Alfred-Escher-Denkmal im Zentrum: Wikimedia Commons, Fotograph: Dietmar Rabich, 04.08.2011 ("Zürich (Schweiz), Bahnhof -- 2011 -- 1386" / CC BY-SA 4.0)
Dieser Sockel ist sehr hoch, so dass es wenig Sinn macht, das Denkmal aus der Nähe zu fotographieren: Man muss einen zu steilen Winkel nach oben wählen, wodurch die Gestalt der eigentlichen Statue weit über Gebühr zusammengestaucht wird. – Tritt man aber weiter zurück, machen einem bald die zahllosen Drähte der Oberleitungen im wörtlichen Sinn einen Strich durch die Rechnung. Das Oberleitungsnetz ist hier sehr dicht, da vor dem Bahnhof, wie nicht anders zu erwarten, verschiedene Tram- und Buslinien zusammenkommen.
Will man, was wohl der natürliche Impuls ist, das Denkmal von vorne zeigen, stellt man fest, dass die dahinter ins Bild rückende Bahnhofsfassade einen sehr unruhigen Hintergrund bildet, der auch farblich wenig Kontrast zum eigentlichen Hauptmotiv bietet. Der grosse Sockel des Denkmals, mit seinem Brunnen, tut ein Übriges, um vom Standbild Eschers abzulenken – und wirkt besonders altmodisch.
Aus diesem Befund ergab sich meine Wunschliste für ein eigenes Foto des Alfred-Escher-Denkmals:
Sockel und Brunnen weglassen, damit die eigentliche Statue und somit Escher als Person in den Mittelpunkt rückt,
das Standbild aus grösserer Entfernung fotographieren, damit seine wirklichen Proportionen zur Geltung kommen können,
die unvermeidlichen Oberleitungen so in das Bild integrieren, dass sie ganz klar Teil der Komposition sind (dazu gehört, dass sie weder Kopf noch Hände des Standbilds schneiden, aber klar und deutlich sichtbar sind und das Bild auf eine interessante Weise strukturieren),
das Standbild von der Seite, in der Profilansicht, abbilden, um einerseits eine ungewöhnliche Perspektive zu gewinnen und andererseits einen besseren Hintergrund zu bekommen als die unruhige Bahnhofsfassade (nicht umsonst galt übrigens die Profilansicht lange als besonders würdevoll),
Alfred Eschers Leben und Wirken durch sichtbare Motive und Symbole illustrieren – sowie durch vom Bild selbst nahegelegte Fragen und Antworten.
Wie dieser letzte Punkt der Wunschliste umgesetzt werden konnte, zeigt sich in einer kurzen Bildbeschreibung des Endresultats «Escher und sein Erbe»:
«Das Alfred-Escher-Denkmal am Zürcher Bahnhofplatz: vom Bildhauer Richard Kissling gestaltet und 1889 aufgestellt. Im Hintergrund sieht man das Hauptgebäude der ETH, die dank Eschers intensiver Bemühungen in Zürich gegründet wurde. Im Vordergrund wird das Bild durchquert vom dichten Gewirr der Oberleitungen für den öffentlichen Nahverkehr – gewissermassen die Fortsetzung von Eschers Eisenbahnbau und Verkehrspolitik. Die Statue blickt die Zürcher Bahnhofstrasse hinab, in Richtung Paradeplatz. Dort befindet sich der Hauptsitz der Grossbank Credit Suisse, deren Gründung ebenfalls auf Escher zurückgeht.»
Die Frage nach der Blickrichtung der Statue, die den wichtigen Verweis auf das von Escher gegründete Bankhaus ermöglicht, ergibt sich zwanglos aus der Profilansicht und dem sich nach rechts hin öffnenden Raum.
Gesagt, getan. – Wenn es nur so einfach wäre… In den folgenden Abschnitten will ich von den Problemen der Umsetzung dieser Bildidee berichten.
Die Zeit: Natürlich sollte das Licht nicht zu harsch sein und sein Winkel nicht zu steil. Und selbstverständlich sollte die Statue von vorne angeschienen werden, so das Gesicht und Hände im Licht liegen, während sich an der Rückenpartie Schatten zeigen, die das Bild kontrastreicher und spannender machen. Alles eine Frage des Sonnenstandes.
In der ersten Septemberhälfte, in der ich dieses Foto umsetzen wollte, ergab sich daraus als Tageszeit ganz klar der frühe Abend – auch bekannt als ‘Rush hour’, insbesondere wenn man sich direkt am Zürcher Hauptbahnhof aufzuhalten hat. Ich musste das Foto also inmitten zahlloser Menschen machen, die vor, hinter, neben mir vorüberströmten oder die aufs Tram warteten und mich derweil bei meiner Tätigkeit beobachteten. Und natürlich hatten diese Menschen auf dem Bild selbst nichts verloren.
Der Ort: Die gewählte Perspektive machte es nötig, den richtigen Fotographen-Standort auf den Millimeter genau zu treffen. Die hohe Frequenz des Verkehrs erlaubte kein Arbeiten auf der Strasse oder den Tramgeleisen, so dass nur der Perron der Tramhaltestelle die nötige Standfläche für das Stativ bot. Da der Erfolg der Bildidee entscheidend davon abhing, wie genau die Oberleitungen die Statue schneiden und die Himmelsflächen teilen würden, konnte jede noch so kleine Verschiebung oder Winkeländerung alles ruinieren. Ich fand meinen Ort exakt an der Kante des Perrons, so dass mich die einfahrenden Trams fast streiften – und die aussteigenden Fahrgäste mich jeweils fast über den Haufen rannten … Das Gute an einem Stativ ist, dass es auf die meisten Menschen sehr respekteinflössend wirkt, so dass sie versuchen, einen grossen Bogen darum zu machen.
Das Foto konnte in den kurzen Zeitfenstern gemacht werden, in denen gerade kein Tram einfuhr oder hielt. Nur dann war die Sicht auf das Denkmal frei.
Der Ausschnitt: Mit der Nikon D850 stand mir eine Kamera mit enormer Auflösung zur Verfügung, was auch Spielräume für ein nachträgliches Beschneiden des Bildes öffnet. Ich begnügte mich mit einer Brennweite von 200mm, da mein Nikon 70–200mm 1:2,8 Objektiv eine herausragende Abbildungsqualität erreicht. Diese Kombination aus Vollformatsensor und 200mm Brennweite ergab einen etwas zu grossen Bildausschnitt, wie er in der «Out-of-Camera»-Abbildung zu sehen ist.
Escher und sein Erbe (out of camera): Rechts begrenzt ein nach dem Grossbrand beim Zürcher Bahnhofplatz (Nacht auf den 25. August 2018) errichtetes Baugerüst den nutzbaren Bildausschnitt, 12.09.2019
Das Bild musste also beschnitten werden. Für einen cleanen Look wurde unten der Sockel des Standbilds komplett aus dem Bild genommen.
Auf der rechten Seite musste natürlich das Baugerüst weichen, um Alfred Escher freie Sicht zu verschaffen. Ärgerlicherweise schränkte das eingepackte Gebäude den möglichen Crop-Bereich im Jahr 2019 zusätzlich ein, ein wenig mehr Raum auf der rechten Seite wäre mir willkommen gewesen. Das Gerüst liess sich aber nicht wegzaubern – es zeugte noch vom Jahrhundertfeuer am Zürcher Bahnhofplatz, bei dem in der Nacht auf den 25. August 2018 der Gebäudekomplex an der Ecke Bahnhofplatz/Bahnhofquai lichterloh in Flammen stand. Für die Renovation des denkmalgeschützten Baus wurde das Gerüst mit dem riesigen Notdach errichtet.
Spannend war es, verschiedene Beschneidungen oberhalb von Eschers Scheitel auszuprobieren: Dabei zeigte sich, dass die Wahrnehmung der Escherfigur stark davon abhängt, wie viel Raum über seinem Kopf gelassen wird. Verzichtet man ganz auf diese Beschneidung, wird Escher von den Oberleitungen überragt und wirkt fast ein wenig verloren. Ein Schnitt nur knapp über dem Kopf hingegen lässt die Gestalt dominant und majestätisch erscheinen – für meinen Zweck das Richtige.
Zum Abschluss möchte ich nochmals auf Fragen der Zeit und des Lichts zurückkommen. Schliesslich gibt es nicht nur Tageszeiten, sondern ganz unterschiedliche Tage. Und es gibt nicht nur Sonnenstände, sondern auch Wolken, die sich der Sonne in den Weg stellen können …
Standhaft: «Athene bewaffnet den Krieger» von Karl Heinrich Möller, 1851 / Baukräne, Berlin-Mitte, 25.09.2014
Der Himmel: Fotographiert man Kunst im öffentlichen Raum, so ist ein blauer Himmel nicht zwingend erste Wahl. Wolken wirken als eine gigantische Softbox, die ein weiches, gleichmässiges Licht erzeugt. Als Beispiel führe ich mein Bild mit dem Titel «Standhaft» an, das hier eingefügt ist. Ein blauer Himmel und harte Schatten würden zu einer ganz anderen Stimmung führen: Mein Verdacht ist, dass dem Bild damit seine Faszinationskraft genommen würde, die sich ja gerade aus dem Einbrechen der signalfarbenen Kräne in die sonst so ruhige, monochrome Darstellung ergibt.
Auch bei meiner ersten Expedition zum Alfred-Escher-Denkmal war der Himmel stark bewölkt und ich sah darin keinen Hinderungsgrund. Ich wollte zunächst verschiedene Perspektiven ausprobieren und so meinen Standort finden – hatte aber auch die Hoffnung, ich könnte mit etwas Glück auf dem Heimweg das Bild schon im Kasten haben. Es zeigte sich vor Ort aber schnell, dass dieser Himmel nicht passend war.
Alfred-Escher-Denkmal: Probeaufnahme bei bedecktem Himmel, 01.09.2019
Escher und sein Erbe: Finale Version, wie sie auch diesem Blog-Post vorangestellt ist, 12.09.2019
Die hier links vom späteren Endergebnis gezeigte Probeaufnahme sollte das nachvollziehbar machen. Die Gestalt Eschers, die ja von Tatkraft zeugen soll, braucht die Leuchtkraft und die Kontraste, die erst durch direkte Sonneneinstrahlung entstehen. Die für das Bild inhaltlich bedeutsame Fassade der ETH säuft einfach ab, wenn sie nicht beschienen wird; und schliesslich tut diesem Bild auch etwas Farbe gut, die hier aber nur ein blauer Himmel liefern kann.
Ich begnügte mich im ersten Anlauf also mit dem Erkunden der Perspektiven und möglicher Standorte und machte einige Probeaufnahmen. Dann wartete ich auf einen gleichmässig blauen Himmel, bis ich schliesslich anderthalb Wochen später wieder mit Kamera und Stativ vor Ort war.
Wichtig für die Bildwirkung ist dabei, dass nicht nur ein blauer Himmel gegeben war, sondern dass es auch keinerlei Schäfchenwolken oder Ähnliches gab, die nur Unruhe in die strengen Linien der Komposition gebracht – und damit vom eigentlichen Gegenstand des Bildes abgelenkt hätten.
In Lightroom habe ich an den Blau-Einstellungen noch ein bisschen gearbeitet, um den Himmel, sprich: Hintergrund besonders flächig wirken zu lassen.
Gesagt, getan. – Lange Rede, «simples» Bild. jz
Alfred-Escher-Denkmal: Probeaufnahme mit anderer Grundidee – alt vs. neu –, im Vordergrund die Werbetafel an einem Tram, 01.09.2019