Am Dienstag – es war der fünfte September 2017 und wir hatten schon einige Tage in San Francisco verbracht – war ich für einmal allein unterwegs. Mein Bruder hatte einen beruflichen Termin und ich hatte mir vorgenommen, einige der klassischen San-Francisco-Motive einzufangen: Den Kontrast alter und neuerer Gebäude im Financial District, das Cable Car auf den steilen Strassen, und schliesslich die Golden Gate Bridge, vom Baker Beach her gesehen.
Am Wochenende hatte die Rekordhitze die Schlagzeilen der Stadt beherrscht. Der Himmel war blank und blau, die Sonne brannte hernieder und der Schweiss ran nur so an uns herunter. Am Dienstag Vormittag war es immer noch das gleiche Bild, und der gleissende Himmel und die flirrende Luft machten es schwierig, die Transamerica Pyramid im Hintergrund zur Geltung zu bringen.
Ich hatte mir vorgenommen, das grüne Eckgebäude an der Kreuzung Columbus Avenue und Kearny Street mit der Transamerica Pyramid zu kontrastieren und hatte schon ziemlich genau im Kopf, wie dieses Bild aussehen sollte. Als ich die Columbus hinunterlief, musste ich allerdings rasch feststellen, dass jener kleine Bereich, der dieses Bild möglich gemacht hätte, mitten in einer grossen Baustelle lag, die zu allem Überfluss auch noch von einem grell-orangen Plastikzaun von erlesenster Scheusslichkeit eingefasst war. Mein Bild war somit gestorben, bevor ich das Stativ auch nur aufgestellt hatte.
Um nicht mit leeren Händen weiterziehen zu müssen, suchte ich einen anderen Platz, von dem aus ich die beiden Gebäude irgendwie in eine reizvolle Beziehung setzen könnte. Die einzige Möglichkeit bestand darin, sich direkt an die Kreuzung zu stellen, vor das sympathische Donut-Kaffee, wo sich gut frühstücken lässt.
Ungleiche Nachbarn (II): Kreuzung Columbus Ave und Kearny St, im Hintergrund die Transamerica Pyramid, San Francisco, 05.09.2017
Ich war gezwungen, den extremsten Weitwinkel zu montieren, den ich zur Verfügung hatte. Um mir keine irreparablen Verzeichnungen einzuhandeln, richtete ich die Kamera horizontal aus, und schnitt die untere Bildhälfte, die natürlich nur Asphalt zeigt, in der Nachbearbeitung weg. Seinen speziellen Look erhält das Bild dadurch, dass es sich um eine Langzeitbelichtung von fünf Sekunden handelt, die durch einen starken Graufilter hindurch aufgenommen wurde.
Nach einem Spaziergang durch Chinatown machte ich mich auf in Richtung California Street, um dem San-Francisco-Motiv schlechthin meine eigene Version hinzuzufügen: Die Strasse steigt steil an und oberhalb einer Haltestelle ist es möglich, ein Bild zu schiessen, das im Vordergrund das berühmte Cable Car mit ein- bzw. aussteigenden Passagieren zeigt; dahinter tut sich der Blick die California Street hinab auf, und in der Mitte der Häuserschlucht erscheint im Hintergrund ein Pfeiler der Bay Bridge. Viel mehr SF geht nicht.
Mit meinem 105mm-Objektiv an der Nikon D500 hatte ich eine sehr gute Brennweite für diese Situation im Gepäck, und diesmal war auch weit und breit keine Baustelle im Weg.
Dafür war dieses Bild mit einer kleinen Mutprobe verbunden: Strassen haben bekanntlich die unangenehme Eigenschaft, von Autos befahren zu werden, und die California ist da keine Ausnahme. Der Standpunkt, von dem aus man die California hinabfotographieren kann, liegt aber logischerweise mitten auf der Strasse. Der Zeitraum, in dem das CableCar hält, ist kurz bemessen und muss genutzt werden. Es gilt also eine Lücke im Verkehr zu erwischen, auf die Fahrbahn zu sprinten, dort in Windeseile den richtigen Bildausschnitt zu finden, möglichst viele Bilder zu machen und dann – während das Cable Car direkt auf einen zurollt, wieder heile das rettende Ufer zu erreichen.
San Francisco! (I): Cable Car in der California Street, im Hintergrund die Bay Bridge, San Francisco, 05.09.2017
Ich brauchte einige Durchgänge, bis ich mit meiner Ausbeute zufrieden war und habe mich sicher eine Stunde an dieser Stelle aufgehalten. Das Licht war gar nicht so verkehrt, es fiel hie und da auf die Fahrbahn und liess das Gebäude am Abschluss der California und ebenso die Bay Bridge schön hervortreten. Die Haltestelle des Cable Car hingegen lag im Schatten. Ich habe deshalb in der Nachbearbeitung diesen Bildbereich etwas aufgehellt, damit das Hauptmotiv besser ins Auge fällt.
Mit dem Bus ging es dann durch die ganze Stadt in Richtung Westen. Ziel war Baker Beach, der nördlichste Strandabschnitt an der Pazifik-Küste unterhalb des Golden Gate. Beim Blick aus dem Fenster sah ich plötzlich mehr und mehr Dunstschwaden auftauchen und über die Stadt ziehen. Kam jetzt tatsächlich der berüchtigte Sommernebel von San Francisco? Tiefhängende Wolken oder Nebelschwaden könnten meinem Bild von der Golden Gate Bridge zusätzlichen Reiz verleihen, dachte ich voller Vorfreude – als der Dunst aber immer dichter wurde und immer tiefer hing, je näher ich meinem Ziel kam, wurde ich etwas nervös. Der Bus spuckte mich auf einem grossen Parkplatz aus, und ich ging zu Fuss hinab in Richtung Meer. Ich muss zugeben, der Anblick, der mich dort erwartete, war entmutigend:
Leben unter Nebel (Ankunft am Baker Beach): Die Golden Gate Bridge, vom Baker Beach aus (nicht) gesehen, San Francisco, 05.09.2017
Die Luft war trüb, das Licht war schwach und diffus, und die stolzen Brückenpfeiler steckten tief in der Nebelsuppe. Das war durchaus ein Erlebnis, aber ein starkes Foto war das nicht. Da ich nun aber einmal da war, zog ich die Schuhe aus, genoss das in meinem Leben so seltene Gefühl des Sandes um meine Füsse, atmete die Meeresluft ein und war schon bald wieder gut gestimmt. Die Kamera in der Hand lief ich langsam in Richtung der Brücke. Die 105mm Brennweite schienen weiterhin ideal zu sein, und so beliess ich es bei diesem Objektiv. Wie oben zu sehen ist, war der Strand an diesem Wochentag nur schwach bevölkert und manche Leute waren auch schon im Aufbruch begriffen. Auf meinem Weg kamen mir auch einige Fotographen entgegen, mit schweren Linsen und Stativen beladen und mit langen Gesichtern, sie hatten an diesem Tag ihr Foto nicht bekommen … Der eine oder andere warf mir einen mitleidigen Blick zu, nach dem Motto: «Der arme Kerl, der ist auch zur falschen Zeit am falschen Ort.»
Pelikanparade: Pelikane am Baker Beach, San Francisco, 05.09.2017
Die Brücke blieb auch weiterhin verborgen, aber die Luft und damit auch die Nebelschwaden waren stets in Bewegung. Nicht ausgeschlossen also, dass sich noch etwas tun würde – ich jedenfalls würde mich so leicht nicht geschlagen geben: Beharrlichkeit ist eine meiner wenigen Tugenden.
Ich wartete. Pelikane flogen den Strand entlang und ich machte ein paar Fotos und erfreute mich daran, wie gut der Autofokus sie erfasste.
Rothko, real: Das Meer, vom Baker Beach aus gesehen, San Francisco, 05.09.2017
Ich wartete. Weit draussen über dem Meer existierte eine lichte Stelle in der Wolkendecke, sie liess die Sonnenstrahlen hindurch und das Wasser glitzerte dort. Ich machte ein paar Aufnahmen von dieser Konstellation, sie sahen schon auf dem Bildschirm meiner Kamera aus, wie kleine Rothko-Gemälde in Grau.
Ich wandte mich immer wieder der Brücke zu. Der Nebel hatte sich ein wenig gehoben und ich versuchte ihn in seinem Kampf gegen die Brückenpfeiler zum Motiv zu erheben. Es war klar, dass das nur in Schwarzweiss funktionieren würde. Das Hochformat schien hier angemessen, um zu zeigen, wie hoch sich das Grau auftürmte und wie ohnmächtig die Brücke demgegenüber erschien.
Nebelgrenze: Die Golden Gate Bridge, vom Baker Beach aus (nicht) gesehen, San Francisco, 05.09.2017
Ich wartete und hatte immerhin das Glück zu sehen, wie sich in einem vergleichsweise lichten Moment ein grosses und bunt beladenes Containerschiff unter der Golden Gate Bridge hindurchschob. Ein schönes Schauspiel und auf jeden Fall ein Foto wert …
Das Goldene Tor: Containerschiff unter der Golden Gate Bridge, vom Baker Beach aus gesehen, San Francisco, 05.09.2017
Point Bonita: Das Meer und die Küste nördlich des Golden Gate, vom Baker Beach aus gesehen, San Francisco, 05.09.2017
Ich wartete und machte derweil einige Aufnahmen von der Küste nördlich des Golden Gate, mit Point Bonita. Die nach oben hin immer dunklere Bewölkung liess die Bilder monochrom und dräuend aussehen.
Ich wartete, während das Containerschiff langsam auf den Ozean hinausglitt. Dabei bewegte es sich in Richtung jenes lichten Bereichs über dem Meer, der immer noch Bestand hatte. Ich hielt das Schiff rechts unten im Bild und verfolgte es so auf seinem Weg. Diese Bilder, die ich später mit «Aufbruch» betitelte, wären allein schon den Ausflug an den Baker Beach wert gewesen. Das Zusammenspiel von Wolken, Licht, Wasseroberfläche mit dem schweren Schiff als Motiv kann so wohl kaum jeden Tag eingefangen werden.
Aufbruch (II): Containerschiff, vom Baker Beach aus gesehen, San Francisco, 05.09.2017
Ich wartete. Und plötzlich wurde ich belohnt: Der Wind frischte auf und die Nebelschwaden gerieten in schnellere Bewegung, sie hoben sich weiter, wurden durchlässig, und – für einige Sekunden nur – war sie in ihrer Gänze sichtbar: die Golden Gate Bridge!
Wer wartet, wird belohnt (out of camera)
Wer wartet, wird belohnt (finale Version)
Ich habe das Bild – es trägt natürlich den Titel «Wer wartet, wird belohnt» – hier out of camera und in seiner finalen Version, erst nach meiner Rückkehr aus den USA in Lightroom entwickelt, einander gegenübergestellt. Man sieht, wie dunstig die Luft war, auch wenn sie den Blick auf die Brücke kurz freigegeben hatte. Die Schärfe des Bildes wurde dadurch weniger gemindert, als man denken möchte, aber jede Farbintensität, die für die Golden Gate Bridge als Motiv einer Farbfotographie entscheidend wäre, fiel dem Nebel zum Opfer. Das ganze Bild wirkt, wie von einem grauen Schleier verhangen.
Ich experimentierte ein wenig damit, die Farben in der Software wieder hervorzuholen, aber das wollte nicht funktionieren. Vorsichtige Anpassungen änderten kaum etwas am dumpfen Gesamteindruck und stärkere Eingriffe wirkten unnatürlich. Es konnte ja auch nicht darum gehen, den Nebel wegzuzaubern – er gehört zu diesem Bild, das bei blauem Himmel wohl recht banal geworden wäre.
Wer wartet, wird belohnt (Detail)
Da mit den Farben nichts anzufangen war, lag die Konvertierung in ein Schwarzweissbild nahe – und tatsächlich: damit liess sich leichter arbeiten. Innerhalb einer halben Stunde kristallisierte sich eine finale Version heraus, der ich glücklich staunend gegenübersass – einer jener raren Momente in der kreativen Arbeit, in denen man auf das eigene Erzeugnis blickt und überhaupt nicht begreift, dass man das selber hervorgebracht hat.
Um dem Bild den letzten Schliff zu geben, räumte ich noch den Strand im Vordergrund auf. Der war zwar weitgehend sauber, aber gerade kleinste, kontrastreiche Objekte im Vordergrund können das Auge des Betrachters irritieren und beeinträchtigen dann den Gesamteindruck eines Bildes. Den einzigen grösseren, klar erkennbaren Gegenstand, der dort lag, mochte ich allerdings nicht wegstempeln: Der McDonald’s-Milkshake-Becher mit Plastikstrohhalm bleibt dem Bild erhalten und zeugt im Dialog mit der Golden Gate Bridge vom unerschöpflichen Reichtum amerikanischer Kultur … jz