Drei von vier Lebensjahrzehnten in der Schweiz verbracht und das Matterhorn noch nie aus der Nähe gesehen? Peinlicherweise war genau das meine Ausgangssituation … Also die Fotosachen eingepackt und auf nach Zermatt!
Mein Ziel war es, die Gegend in ein paar Wanderungen zu erkunden und mich in Landschaftsfotographie zu üben. Eine Inspirationsquelle war mir ein YouTube-Video des Berner Selfmade-Fotographen Stephan Wiesner, das ich an dieser Stelle gerne verlinke. Durch dieses Video habe ich erst vom Riffelsee als Foto-Location erfahren und im gleichen Zuge wichtige Informationen mitgenommen, ohne die ich wohl nicht zu meinen Morgenröte-Bildern gekommen wäre.
Nachdem ich am Sonntag angereist war und erste Bekanntschaft mit Zermatt geschlossen hatte, hiess es am Montag – es war bereits der 10. Oktober – das gute Wetter zu nutzen und den Gornergrat zu erobern. Zwei Stationen mit der berühmten Bergbahn bis zur Riffelalp, dann ging es zu Fuss weiter: Vor mir lagen eine Wanderung durch eine grossartige Landschaft und ca. 900 Höhenmeter, die mir gegen Ende hin ordentlich zu schaffen machen würden …
Dass ich kein geübter Wanderer bin, machte mir schon der Aufstieg zum Riffelberg klar, aber es war bei allem Keuchen und Schnaufen jederzeit ein grossartiges Gefühl. Abseits der Hauptsaison hatte ich die Wege häufig ganz für mich allein. Am Riffelberg bietet die Kapelle „Bruder Klaus“ einen schönen Vordergrund für Matterhorn-Aufnahmen. Der Himmel allerdings war zu diesem Zeitpunkt grösstenteils von dünnen Wolkenschwaden bedeckt, was meine Aufnahmen zunächst recht fad aussehen liess.
Dem Himmel ganz nah: Das Matterhorn, im Vordergrund die Kapelle "Bruder Klaus", Riffelberg, 10.10.2016
Beim Bild „Dem Himmel ganz nah“ habe ich mich dafür entschieden, den Himmel durch eine starke Steigerung der Blau-Luminanz wieder zum Leben zu erwecken. Das Bild ist nicht ohne Reiz, auch wenn die Komposition sicherlich nicht perfekt ist. Der nun sehr dramatisch wirkende Himmel, der einen Grossteil der Bildfläche einnimmt, steht in einer eigentümlichen Spannung zur beschaulichen Landschaft im Vordergrund. Die schroffe Gebirgskette vermittelt zwischen diesen gegensätzlichen Bildteilen. Wirklich ausgewogen erscheint das Bild dennoch nicht.
Jörg Zimmer fotographiert am Riffelsee, 10.10.2016
Die Wanderung ging weiter bergauf, zum Riffelsee, wo ich kurz nach halb vier eingetroffen sein muss. An diesem berühmten Ort, an dem sich das Matterhorn nicht nur von seiner schönsten Seite zeigt, sondern sich zudem im See spiegelt, ist man tagsüber wohl selten allein. Ich musste ein bisschen warten, bis eine gute Position frei war, kann konnte ich das Stativ aufbauen. Wohl eine Dreiviertelstunde lang machte ich Aufnahmen und wartete auf den einen perfekten Moment.
Um 16 Uhr 22 war es soweit: 1) Es war fast windstill und der See glatt genug, um eine schöne Spiegelung zu zeigen; 2) die Wanderwege im Mittelgrund waren menschenleer; 3) der Himmel zeigte genug Blau und eine interessante Wolkenlinie, die die imposante Wirkung des Matterhorns noch steigerte; 4) die Wolke an der Flanke des Matterhorns, die im Laufe des Nachmittags immer voluminöser geworden war und somit die meisten Bilder ruinierte, hatte sich zu einer spannenden, witzigen Form aufgeplustert – je nach Neigung des Betrachters erweckt sie hier den Eindruck, jemand hätte einen riesigen Schneeball auf das Matterhorn geworfen und das Foto zeige den Moment des Aufschlags, oder aber es handele sich beim Matterhorn um einen aktiven Vulkan … Daher der Bildtitel „Mattervulkan“.
Mattervulkan: Das Matterhorn spiegelt sich im Riffelsee, 10.10.2016
Es folgte der letzte Aufstieg – zum Gornergrat auf 3100 Metern Höhe. Vom Riffelsee her kommend, ist es zwar ein steiler, aber kein übermässig langer Weg mehr. Lang genug allerdings, um mich an diesem Tag an meine Grenzen zu bringen. Ich war schon erschöpft genug von der ungewohnt langen Wanderung mit zwei Kameras und mehreren Objektiven im Gepäck – und auch von der konzentrierten Foto-Arbeit am See. Was aber wenigstens genauso ins Gewicht viel – und das hatte ich überhaupt nicht auf dem Schirm gehabt –, ist die Tatsache, dass auf 3000 Metern die Luft doch spürbar dünner wird. Irgendwann kriegte ich schlicht keine Luft mehr.
Ich stand nur noch 50 Meter unterhalb der Bergstation der Gornergratbahn und sah das Gebäude mit dem Kulmhotel und der Sternwarte dahinter – und ich konnte einfach nicht mehr … Ich musste die 50 Meter in fünf Etappen a 10 Meter unterteilen und dazwischen jeweils drei Minuten Pause machen. Über mir schwebte eine Kameradrohne, die interessiert auf mich herabspähte. Als ich dann doch oben angekommen war, zeigte sich, dass die Drohne zu einem indischen Filmteam gehörte, eine Tänzerin bereitete sich gerade auf ihren Einsatz vor der Alpenkulisse vor und das Fluggerät fing derweil Impressionen der Landschaft ein. Vielleicht bin ich demnächst – völlig ausser Atem und mit leidendem Gesichtsausdruck – für einige Sekunden in einem Bollywood-Film zu sehen, dann wohl als Symbol dafür, wie schwer diese Gipfel zu erklimmen sind …
Jörg Zimmer im "Castor"-Zimmer des "3100 Kulmhotel Gornergrat": 12.10.2016
Am Dienstag Mittag machte ich mich von Zermatt aus erneut auf zum Gornergrat, diesmal allerdings fuhr ich mit der Bahn direkt bis zur Bergstation und checkte für eine Nacht im Kulmhotel ein. Mir wurde das Zimmer „Castor“ zugewiesen, wie alle Räume benannt nach einem Alpengipfel, der sich beim Blick aus dem Fenster betrachten liess. Die Wand-Dekoration, die auf dem Selfie zu sehen ist, besteht aus den Höhenlinien des Castor mit einem Stein vom Gifel dieses Berges in der Mitte.
Sinn dieser Übernachtung war es, am frühen Morgen an den Riffelsee zurückkehren zu können und das Matterhorn während des Sonnenaufgangs zu fotographieren. Da die Bahn zu dieser Zeit noch nicht fuhr und der Gedanke, bei Minusgraden allein in den Alpen zu campieren, keine Glücksgefühle in mir auslöste, blieb nur noch die Möglichkeit, die Nacht auf dem Gornergrat zu verbringen und von dort ca. eine Stunde vor der Morgenröte aufzubrechen, um zum See hinabzusteigen.
Das Wetter hatte unterdessen umgeschlagen, an diesem Dienstag war der Himmel mit dicken Wolken verhangen, vom Matterhorn war zur grossen Enttäuschung aller Touristen, die diesen Tag für ihren Ausflug zum Gornergrat gewählt hatten, rein gar nichts zu sehen, und ein leichter Schneefall hatte eingesetzt. Ich machte mir auch Sorgen, ob mein Plan wohl an der Witterung scheitern würde. Die Dame an der Rezeption machte mir Mut: Die Aussichten für den folgenden Tag seien sehr gut, es werde in der Nacht bestimmt aufklaren. Ich erhielt auch den sehr nützlichen Tipp, für meinen Abstieg einen anderen Weg zu wählen und angesichts der rutschigen Verhältnisse lieber der Skipiste auf der anderen Seite der Gleise zu folgen.
Ich wollte sichergehen, dass das auch klappen könnte, und dabei gleich das Timing proben. So ging ich die Strecke am Nachmittag bereits einmal ab. Die dünne Schneeschicht auf dem Gestein machte das Unternehmen deutlich unsicherer als es mir lieb war, aber nach einer knappen Dreiviertelstunde war ich am Riffelsee angekommen. Zu meinem Schrecken musste ich sehen, dass der See an den Rändern begonnen hatte zuzufrieren. In der eiskalten Nacht, die bevorstand, würde dieser Prozess gewiss rasch voranschreiten und wenn ich Pech hätte, dachte ich, stünde ich am nächsten Morgen vor einem vereisten See und hätte die Matterhorn-Reflexion somit verloren …
Das weisse Dreieck: Ausblick auf das Alpenpanorama, in der Nähe der Bergbahn-Station Rotenboden, 11.10.2016
Ich nutzte die verbleibende Zeit bei Tageslicht, um auf der Höhe der Bahnstation Rotenboden spazieren zu gehen und den Blick auf die Gletscher und die gegenüberliegenden Gebirgszüge der Alpen auf mich wirken zu lassen. Das Bild „Das weisse Dreieck“ ist dabei entstanden. Es schien mir dabei minütlich immer noch kälter zu werden. Als ich zur Station zurückgekehrt war, um auf die letzte Bahn nach oben zu warten, bemerkte ich, dass in meiner Trinkflasche Eisklumpen schwammen.
Jörg Zimmer friert an der Station Rotenboden ("Oh my God! They killed Kenny!"), 11.10.2016
Beim Abendessen im Kulmhotel war es deutlich gemütlicher, die Nacht dann schlaflos. Man sagt, es sei nicht leicht, auf dieser Höhe eine entspannte Nacht zu verbringen, bei mir kam allerdings die Aufregung vor meiner Foto-Mission hinzu – und die Angst eines chronischen Morgenmuffels, einen auf 05:25 gestellten Wecker schlichtweg zu verpennen! Ich glaube, ich habe kein Auge zugetan, dafür stand ich dann aber um halb sechs senkrecht im Bett und machte mich daran, mich so dick einzupacken, wie es nur ging. Der Weg hinab zum Riffelsee war an sich schon ein erhebendes Erlebnis. Die Wolken waren tatsächlich im Laufe der Nacht vom Wind vertrieben worden, ein klarer Sternenhimmel leuchtete über mir. Ich war mit Taschenlampe und Stirnleuchte ganz allein auf meinem Weg durch die Alpenlandschaft und meine Nervosität wich der Freude auf die ersten Sonnenstrahlen und die Bilder, die ich würde einfangen können.
Die erste Aufnahme machte ich um 07:01 Uhr. Ich stellte das Stativ noch einmal um, um die Perspektive zu optimieren, und nutzte – wie für Landschaftsaufnahmen üblich – Liveview und die einblendbare Horizontlinie für die genaue Bildkomposition. Mit dem Weitwinkel-Zoomobjektiv variierte ich die Brennweite und erprobte auch verschiedene Blenden und Belichtungszeiten, um Erfahrungen damit zu sammeln. Ich versuchte, die Bilder eher leicht unter- als überzubelichten, um in Lightroom alle Möglichkeiten zu haben. Zum Fokussieren und Auslösen nutzte ich den Touchscreen der Nikon D500, den man sehr schnell schätzen lernt.
Dann kamen die Farben: Zunächst nur als eine Ahnung, ein leichtes Band in der Luft, das dann begann intensiver zu leuchten, während es sich auf den Horizont herabsenkte. Das Bild „Morgenröte“ vermittelt diese Erfahrung. Ich zeige es hier in der dunklen Out-of-Camera-Version sowie in Lightroom entwickelt: Auf ein episches 16:9-Format beschnitten, aufgehellt, und mit Hilfe einer Kontrast-, Sättigungs- und Luminanz-Steigerung in Richtung Kalender-Ästhetik gerückt … Das Ergebnis mag als eine leichte Übertreibung erscheinen, aber im Grunde genommen kompensieren diese Schritte nur – so weit es geht – den Verlust des Erlebnisses vor Ort, das die Fotographie ja niemals einfangen kann; sie bleibt immer nur Bild.
Morgenröte (out of camera): Das Matterhorn spiegelt sich im Riffelsee, 12.10.2016 (07:33)
Morgenröte (entwickelt): Das Matterhorn spiegelt sich im Riffelsee, 12.10.2016 (07:33)
Wenn man genau hinsieht, kann man erkennen, wie hier schon die allerersten Sonnenstrahlen auf die Gipfel trafen, sie begannen nun, den Berg herabzusteigen und nach wenigen Minuten verflüchtigte sich das Farbspektrum bereits wieder und der Himmel begann schliesslich in einem intensiven Blau zu leuchten.
Gipfelleuchten: Das Matterhorn spiegelt sich im Riffelsee, 12.10.2016 (07:49)
Um halb acht kam die erste Bahn an der Station Rotenboden an – und wenige Minuten später war ich nicht mehr allein. An die zehn Touristen aus aller Herren Länder gesellten sich mit ihren Kameras zu mir und fragten höflich nach, wie ich das denn geschafft hätte, vor ihnen hier zu sein. Das grosse Farbenspiel hatten sie zwar knapp verpasst, aber es gab immer noch gute Bilder zu machen, während die Sonne langsam die Berge eroberte.
Ich war zu diesem Zeitpunkt schon ordentlich durchgefroren: Wenn man sich bei Minusgraden kaum bewegt, weil man ganz auf seine Kamera fixiert ist, dann sind irgendwann auch vier Lagen Bergsportbekleidung nicht mehr in der Lage, einen vor dem Auskühlen zu bewahren. Ich musste anfangen, zwischen meinen Aufnahmen kleine Kreise zu laufen, um ein bisschen Wärme in mir zu schaffen.
Als das Schauspiel des Sonnenaufgangs vorbei war, trennte sich das kleine Fotographen-Grüppchen wieder auf und ich kehrte mit der nächsten Bahn völlig durchgefroren und kaputt in mein Hotelzimmer auf dem Gornergrat zurück. Unter der Dusche taute ich mich langsam wieder auf, und so lächerlich einfach meine Mission aus Sicht eines erfahrenen Bergsteigers oder eines professionellen Landschaftsfotographen auch sein mag – grosser Stolz und ein intensives Glücksgefühl breiteten sich in mir aus. Ich werde mich daran immer gut erinnern können. jz
Das Matterhorn: Das Matterhorn spiegelt sich im Riffelsee, 12.10.2016 (07:58)