Ein illuminiertes Riesenrad, fotographiert in der Abenddämmerung. Durch die lange Belichtungszeit von sechs Sekunden zeichnen die Lampen an den Streben des Rads farbige Kreise in das Bild.
Doch auch wenn das Riesenrad die Hauptattraktion ist und seine hellen Lichter zunächst die Blicke auf sich ziehen – das Foto ist damit noch lange nicht beschrieben. Denn eigentlich deckt das Fahrgeschäft nur einen kleinen Teil der Bildfläche ab und steht ziemlich weit im Hintergrund. Hat man sich an den leuchtenden Kreisen einmal sattgesehen und sich an die Dunkelheit gewöhnt, so beginnt der Blick zu schweifen, findet das helle Boot im Vordergrund und folgt von dort der Tiefenstaffelung, die immer weiter in das Bild hineinführt. Ein angeschnittenes Schild weist das Szenario als Bootsvermietung aus, in zwei Reihen sind die unbemannten Tret- und Motorboote nach Feierabend am Steg festgemacht. Auch das Wasser des Flusses ist menschenleer und spiegelt nur die Lichter. Auf der Brücke sind die Spuren einiger Autos und eines fahrenden Trams zu sehen. Das Bild reicht bis zum eindunkelnden Himmel über dem bewaldeten Bergkamm im Hintergrund.
Das Setting ist durchaus komplex. Es ist düster und geheimnisvoll. Der Blick geht auf die Suche: Dass das blau-violette Licht des Riesenrads das Bild so dominiert, liegt nicht zuletzt daran, dass keine menschliche Aktivität die Aufmerksamkeit auf sich zieht – es scheint fast, als hätte das grosse Rad alles Leben hypnotisiert, magisch angezogen und in sich aufgenommen.
Zu den spannenden Faktoren bei der Fotographie unter freiem Himmel zählt auf jeden Fall der Mangel an Kontrolle. Die Wesen und Dinge, die man fotographieren möchte, folgen ihrer eigensinnigen Logik, und man muss sich ihnen anbequemen, sie studieren, sich an ihnen unermüdlich ausprobieren und dabei auch das Glück herausfordern. Zudem empfiehlt es sich, offen zu sein für unerwartete Ereignisse und Effekte.
Bei diesem Bild schien es mir wichtig, durch die Lichtspur eines auf der Brücke fahrenden Trams ein kleines leuchtendes Gegengewicht zum übermächtigen Riesenrad im Bild zu haben. Das Foto konnte also nur in den kurzen Momenten gemacht werden, in denen ein Tram über das Ende der Brücke fuhr. Gleichzeitig musste das Riesenrad sich drehen, was natürlich nicht immer der Fall war: Vielmehr dreht sich ein Riesenrad nur eine Weile, dann steht es eine Weile lang still. Wenn sich das Rad nicht dreht, funktioniert das Bild nicht. Wenn sich das Rad dreht, aber es fährt gerade kein Tram vorbei, funktioniert das Bild auch nicht richtig. Und wenn ein Tram fährt UND sich das Rad dreht – in welchen Farben leuchtet es dann? Das Riesenrad konnte eine Vielfalt an Farben und Mustern darstellen, die ich einfach so annehmen musste, wie sie kamen.
Stadt in Hypnose (Variante in gelb-rot): Blick auf das illuminierte Riesenrad am Bürkliplatz, Zürich, 27.04.2023
Das für mich ganz und gar Unerwartete war nun, das ausgerechnet die Farbkombination, die sich am wenigsten vom Zwielicht der beginnenden blauen Stunde abhob, die mit Abstand faszinierendste Bildwirkung erzeugte. Ich füge hier zur Illustration ein anderes Foto aus dieser Reihe ein, bei dem das Riesenrad in spanischen Farben erstrahlt. Dieses buntere Bild wirkt belanglos verglichen mit der Version, die ich hier bespreche – und auf diese Idee wäre ich im Vorfeld nicht gekommen. Erst die sich über das ganze Bild erstreckende, einheitlich bläuliche Lichtstimmung lässt das Riesenrad so auratisch und mächtig wirken.
Dass es bei der Besprechung eines Riesenrad-Fotos überhaupt so viel zu sehen, zu entdecken und zu hinterfragen gibt, ist das eigentlich Spannende – es ist das Ergebnis eines Lernprozesses, den ich als Fotograph in den letzten Jahren durchlaufen habe. Die Lehre, die es zu erkennen und zu verinnerlichen galt, ist kontra-intuitiv: Ich sehe etwas Schönes, etwas Spektakuläres, vielleicht sogar Leuchtendes, ich will es natürlich ganz aus der Nähe betrachten, aber das Kommando lautet: «Bitte zurücktreten!»
Als ich – ziemlich genau sieben Jahre zuvor – das erste Mal ein illuminiertes Riesenrad fotographieren wollte, sah das originellste Bild am Schluss so aus:
Power-Flower: Riesenrad am Bürkliplatz, Zürich, 14.04.2016
Ich hatte gerade mein erstes Stativ gekauft und realisiert, dass man damit in der Dämmerung Lichtspuren auf dem Sensor einfangen kann. Dieser Effekt hatte mich so begeistert und geblendet, dass ich wie ein blöder Tourist auf das Riesenrad zugelaufen war, um es bildfüllend zu fotographieren. Das Ergebnis ist genauso oberflächlich wie der Lichteffekt des Fahrgeschäfts selbst. Der klägliche Versuch, durch die bodennahe Position der Kamera eine etwas originellere Perspektive zu generieren, kann daran nichts ändern. Dieses Bild schafft weder neue Bezüge oder Einsichten, noch erzählt es eine Geschichte, die den Betrachter fesseln könnte.
Auch die Titel meiner Riesenrad-Bilder reflektieren den Fortschritt, den ich in dieser Hinsicht gemacht habe: Während «Power-Flower» als Titel für das frühe Bild nur ein kleines Wortspiel ist, das sich auf den Anblick des Riesenrads selbst bezieht, ist «Stadt in Hypnose» ein Titel, der sich damit beschäftigt, wie das Riesenrad auf seine Umgebung ausstrahlt. Ergo: «Bitte zurücktreten!»
Aber auch das Gegenteil ist natürlich eine Option. Näher herantreten, hineinzoomen, ein Detail isolieren und dadurch Verwirrung stiften. Dieses alternative Vorgehen ist leichter und ich habe es mir viel eher angeeignet. Ich illustriere das hier mit zwei Beispielen aus dem Jahr 2014, da hatte ich das Fotographieren erst wenige Monate zuvor für mich (wieder)entdeckt:
Hand und Fuss: „Der Sportler“ aus der Figurengruppe des Brunnens der Generationen von Rolf Biebl, Helene-Weigel-Platz, Berlin-Marzahn, 24.09.2014
Gesicht: Monument als castellers, Rambla Nova de Tarragona, 09.10.2014
Das Zurücktreten hingegen ist nicht nur kontra-intuitiv, weil man dem Objekt der Begierde erst einmal den Rücken zukehren und sich von ihm entfernen muss – es ist auch anspruchsvoller, weil es einem Entscheidungen abverlangt: Will man sich auf eine Sache zubewegen, ist der Weg meistens klar; sollte man sich aber von einer Sache wegbewegen, muss man sein Ziel erst noch finden. Wie lässt sich ein Objekt am Geschicktesten in die grössere Stadtlandschaft einbinden? Mit welchen anderen Objekten oder Ereignissen lässt es sich kontrastieren oder auf andere Art in Verbindung setzen? Dafür braucht man jedes Mal aufs Neue eine Idee, die ein Bild mit erzählerischem Potential entstehen lässt. Und manchmal braucht man auch ein Auge für flüchtige Gelegenheiten, und die Spontaneität, sie zu ergreifen.
Zum Jahreswechsel 2023/24 wurden in Zürich die historischen Kirchen und einige andere Gebäude unter dem Titel «LiechtTräum» mit von Künstlern geschaffenen Motiven bestrahlt. Am Abend des zweiten Januar war ich mit dem Stativ unterwegs, um zwei dieser Werke einzufangen.
2x2: Das Grossmünster als Teil der "LiechtTräum": "Come together" vom Zürcher Künstler Oibel1, Zürich, 02.01.2024
Mein Bild «2x2» zeigt die zwei Türme des Grossmünsters, vom Zürcher Künstler Oibel1 bespielt, auf die stilisierte Gesichter projiziert sind, und stellt sie zwei Frauen gegenüber, die am anderen Ufer miteinander tuscheln. Was sagt die eine zur anderen? In welchem Verhältnis stehen diese beiden ‘Teams’ zueinander?
Die Belichtungszeit betrug zehn Sekunden. Ich hatte das Glück, dass die beiden menschlichen Akteure sich an meiner Kamera nicht störten und sich kaum bewegten, solange der Verschluss geöffnet war. Solche günstigen Fügungen ergeben sich viel häufiger, als man glauben möchte. Deshalb kehrt man des Öfteren mit unerwarteten Bildern zurück, immer ein beglückendes Erlebnis.
Flügel der Zeit: Die Kirche St. Peter als Teil der "LiechtTräum": "Nachtfalter" von Maja Hürst, Zürich, 02.01.2024
Das Foto von der Kirche St. Peter, das ich mit dem kitschigen Titel «Flügel der Zeit» bedacht habe, zeigt die Projektion «Nachtfalter» von Maja Hürst. Meine Idee war, das Kunstwerk in einem lebendigen Rahmen zu zeigen. Dadurch wird einerseits eine langweilige Darstellung vermieden, in der der Turm einsam vor dem nächtlichen Himmel steht. Andererseits versetzt der Rahmen aus Baumstamm und Ästen das der Fauna unseres Planeten entnommene Motiv zurück in seine Biosphäre. Vielleicht ein Plädoyer dafür, die Zeit zu nutzen – solange sie uns noch nicht um die Ohren fliegt –, um wieder mehr Natur in unsere Städte zu holen?
Das Bild «Stadt in Hypnose», mit dem ich diesen Beitrag begonnen habe, hat übrigens einiges mit diesen beiden Bildern aus den «LiechtTräum» gemein: Nicht nur sind alle drei Bilder abends in der Blauen Stunde entstanden und zeigen illuminierte Objekte, sie sind auch alle in Zürich über die Limmat hinweg fotographiert, nutzen also den weiten Raum und die Brücken, die sich dem Fluss inmitten der dichten Stadtlandschaft verdanken. Man muss nur aufpassen, dass man beim «Zurücktreten» nicht ins Wasser fällt … jz