Lügen durch Weglassen – in der Landschaftsfotographie ist das ohne Zweifel ein wichtiges künstlerisches Prinzip. Dazu gehört, dass Fotos stumm sind: Gerade an den berühmtesten Aussichtspunkten dieser Welt würde eine Tonspur oft die Erhabenheit der Natur an der unfreiwilligen Komik des Menschlich-Allzumenschlichen zerschellen lassen.
Im September 2017, auf einer grossen Reise durch den Südwesten der USA, verbrachten mein Bruder und ich einen Tag im Arches-Nationalpark in Utah. Nach einer abenteuerlichen Wanderung durch «Devils Garden» waren wir zwar schon ziemlich kaputt, aber es lockte noch der Anblick des Delicate Arch im Abendlicht. Dieser alleinstehende, mächtig und doch auch fragil wirkende Steinbogen wird von der Abendsonne angestrahlt und zum Leuchten gebracht. Es ist einer der spektakulärsten Anblicke, die die Geschichte unseres Planeten hat entstehen lassen.
Der Anstieg war länger und steiler, als gedacht – wir hatten schon einige Kilometer in den Knochen, und ich hatte natürlich mein Equipment inklusive Stativ im Rucksack. Auch war der Weg gut bevölkert, und man hatte Gelegenheit, sich darauf einzustellen, dass man am Ende nicht allein sein würde …
Oben angekommen, blickt man aus erhöhter Position in einen steinernen Kessel hinab, an dessen hinterem Ende der Delicate Arch steht. Es hat etwas von einem antiken griechischen Theater: Der Steinbogen als die Skene, das Bühnenhaus. Die Ränge waren bereits gut gefüllt, es gelang mir aber rasch, ein tolles Plätzchen für mich und mein Stativ zu finden. Die Vorstellung war in vollem Gang und die strategische Lage zunächst unübersichtlich, erst nach einigen Minuten gewann ich den Überblick über die teilnehmenden Parteien:
1) Die Plätze auf der rechten Seite, von wo aus man die beste Aufsicht auf die sonnenbeschienene Seite des Bogens hatte, waren von enthusiastischen Landschaftsfotographen besetzt. Sie kamen aus aller Herren Länder und sassen dicht an dicht am Hang, wie eine Kolonie brütender Seevögel, die Hälse gereckt und bisweilen in kleine Revierstreitigkeiten verstrickt. Fast alle mit Stativ, was für hochklassige Landschaftsfotos, zumal bei tiefstehender Sonne, auch benötigt wird. Hier liess auch ich mich nieder.
Been there, done that: Touristin unter dem Delicate Arch im Arches NP, Utah, USA, 16.09.2017
2) Die linke Seite hingegen wurde dominiert von jenen Touristen, die näher an den Bogen gelangen wollten. Viele kamen aus dem asiatischen Raum – und sie wollten durchaus auch fotographieren, bzw. fotographiert werden: Einer nach dem anderen liefen sie an der Flanke des Kessels vor, stellten sich direkt unter den Bogen, warfen sich in Pose und warteten, bis ihre Begleitung das Foto gemacht hatte. «Been there, done that.»
Es wäre ihnen eigentlich zu gönnen gewesen, aber sie wurden Mal für Mal von der Flanke der Landschaftsfotographen lautstark und mit erstaunlicher Agressivität ausgebuht! Wer eine teure Kamera und ein Stativ besitzt, ist in der Regel männlich, oft gesetzten Alters und hat einiges an Geld verdient. Das geht dann in der Summe einher mit einem «gesteigerten» Selbstwertgefühl. Ich schwankte zwischen Belustigung und Fremdscham. Der Konstellation, dass eine Gruppe sich selbst mitten in der Landschaft sehen möchte, während die andere Gruppe die Landschaft unbevölkert in ihrer Erhabenheit abbilden möchte, ist der Konflikt natürlich innewohnend. Und jeder ist sich selbst der Nächste.
Man wird kaum fehlgehen in der Vermutung, dass diese Komödie hier täglich gegeben wird. An diesem Samstag allerdings kam eine dritte Gruppe hinzu und machte alles noch viel komplizierter:
In Gottes Haus: Hochzeit am Delicate Arch im Arches NP, Utah, USA, 16.09.2017
3) Es wurde nämlich vor dem Delicate Arch geheiratet: Die Hochzeitsgesellschaft bestand aus allem was dazugehört: Braut und Bräutigam, Pfarrer, Hochzeitsfotograph, Freunde und Familie … Diese Gruppe hielt sich konstant in der Nähe des Bogens auf und verunmöglichte den Landschaftsfotographen dadurch das klassische Zielfoto vom Delicate Arch, in dem man den Bogen auf der rechten Seite des Bildes sieht, während sich links davon der weite Ausblick in die Landschaft öffnet. Das letzte Bild dieses Blog-Eintrags gibt den entsprechenden Bildausschnitt wieder. Da die Hochzeit vorüber und das Abendlicht fast erloschen war, hatte ich die Kamera etwas gedreht um vielleicht im verbliebenen Licht noch eine gute Aufnahme machen zu können, aber eine Handvoll Leute blieb immer noch im Bild.
In der Stunde davor, in der das Abendlicht sich noch seinem goldenen Höhepunkt näherte, stellte die Lage der Dinge die aufgebrachten Landschaftsfotographen vor eine Zerreissprobe zwischen ihrer Empörung (die den «ordinären» Touristen galt und sich in den geschilderten Buhrufen entlud) und dem anerzogenen Anstand, der verlangte, dass der Hochzeit und dem Brautpaar mit Respekt und Zuneigung begegnet werde.
Ein sehr grosser Ehering: Brautpaar unter dem Delicate Arch im Arches NP, Utah, USA, 16.09.2017
Dementsprechend brandete im weiten Rund immer wieder Applaus auf, wenn ein Schritt der Hochzeitszeremonie begann oder abgeschlossen wurde oder sich Mitglieder der Gesellschaft zum Foto aufstellten – wohingegen, sobald sich wieder ein frecher Tourist vorwagte und unter den Steinbogen rannte, die Buhrufe einsetzen. So ging es hin und her: Buh! Buuuuh! Applaus, Applaus! Buuuuuh, Buh, Buuuh! Applaus! Buuu! Applaus, Applaus! Buuuuuuuh!
Ich selbst hatte rasch gemerkt, dass es keinen Sinn machte, sich auf das klassische Zielfoto zu versteifen und hatte den alternativen Bildausschnitt gewählt, mit dem Delicate Arch links im Bild, so wie es im Titelbild zu diesem Text zu sehen ist. Diese Komposition bietet etwas weniger Fernsicht, hat in der klaren Staffelung und den feinen Farben des Hintergrundes aber auch ihren Reiz. Der Vorteil an diesem Abend war auf jeden Fall, dass diess Bild immer wieder kurzfristig menschenleer war, wenn ein Tourist aus dem Bogen herausgelaufen und der nächste noch nicht dort eingetroffen war. Und gerade in jener kritischen Zeitspanne, in jenen vielleicht zwei Minuten, in denen die Abendsonne ihren Zauber zur Vollendung brachte, bevor er rasch in sich zusammenfiel – gerade in jener entscheidenden Zeitspanne war dieses Bild frei und leuchtete in ganzer Pracht. Und so kam ich in diesem bizarren Getümmel zu einer meiner schönsten Landschaftsaufnahmen.
Nun, da ich – längst wieder vor dem heimischen Computer sitzend – mich daran mache, dieses Erlebnis in eine schriftliche Form zu bringen, wird mir aber auch ein Versäumnis deutlich: Ich hätte nicht nur das grossartige Landschaftsfoto machen, sondern auch die hier so umständlich beschriebene Situation und die verschiedenen beteiligten Parteien mit Fotos dokumentieren sollen. Aus verschiedenen Blickwinkeln, in verschiedenen Bildgenres. Dann hätte sich an dieser Stelle ein viel bunter illustriertes Making-of veröffentlichen lassen. Ich bin mir allerdings nicht böse ob dieser Unterlassungssünde, schliesslich bin ich nur ein Hobbyfotograph und stecke selbst als ein solcher noch in den Kinderschuhen – aber man kann ja für die nächsten Projekte daraus lernen.
Dass ich meine Hauptkamera fest installiert und auf den gewählten Bildausschnitt ausgerichtet hatte, war sicherlich richtig so: Das Endresultat «Ohne Worte» spricht für sich, und dieses Bild gemacht zu haben, bedeutet mir viel. Und gerade in einer so verworrenen Situation muss man auch die Beharrlichkeit haben, auf den einen, den richtigen Moment zu warten. Aber ich hätte meine Zweitkamera dabeihaben und zu dokumentarischen Zwecken nutzen können oder ich hätte einfach meinen Bruder, der sowieso hin und herlief und sich vor Lachen kringelte ob all dieser Absurditäten, darauf ansetzen können, mit seinem Smartphone diverse Ansichten festzuhalten.
Das ist nicht geschehen, aber es bleibt auch so genug zurück: Ein nahezu perfektes Foto von einer der schönsten Landschaften unserer Erde, eine tolle und witzige Erinnerung, die ich mit meinem Bruder teile – und schliesslich eine kleine Lektion für die Zukunft. – Und zu guter Letzt vertraue ich als Germanist auch auf die Kraft der Sprache und hoffe, dass dieser Text vor dem inneren Auge des Lesers ein lebendiges – lärmiges! – Bild entstehen lassen wird. jz
Das eigentliche Zielbild: Hochzeitsgesellschaft und Touristen verunmöglichen die klassische Aufnahme vom Delicate Arch im Arches NP, Utah, USA, 16.09.2017